Zeichnungen

Aus Mitteilungen Max Brods ist bereits seit den vierziger Jahren bekannt, dass Kafka in seinen frühen Jahren sich nicht nur für Kunst und Kunstgeschichte intensiv interessierte, sondern sich auch selbst ernsthaft als Zeichner versuchte. Kafka selbst hat das in einem Brief an Felice Bauer vom 11./12. Februar 1913 bestätigt: »Du, ich war einmal ein grosser Zeichner, nur habe ich dann bei einer schlechten Malerin schulmässiges Zeichnen zu lernen angefangen und mein ganzes Talent verdorben. Denk nur! Aber warte, ich werde Dir nächstens paar alte Zeichnungen schicken, damit Du etwas zum Lachen hast. Jene Zeichnungen haben mich zu seiner Zeit, es ist schon Jahre her, mehr befriedigt, als irgendetwas.«

Brod hatte Kafkas Zeichnungen, die überwiegend zwischen 1903 und 1907 entstanden, schon früh gesammelt; später veröffentlichte er einige von ihnen. Bekannt wurden vor allem Kafkas ›Strichmännchen‹, da sie bereits seit den fünfziger Jahren in vielen Ländern als Cover-Illustrationen zu Kafkas Werken verwendet wurden (die Abbildung zeigt eine neuere Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlags). Daraus entstand das verbreitete Missverständnis, diese Zeichnungen seien von Kafka selbst als Illustrationen zu Das Urteil, Der Process und anderen Texten ›gemeint‹ gewesen, während sie tatsächlich fast ein Jahrzehnt früher entstanden.

Zeichnung Kafkas: drei Figuren
© The National Library of Israel

In den fünfziger Jahren schlug der S. Fischer Verlag Max Brod eine Gesamtausgabe von Kafkas Zeichnungen vor, was dieser jedoch ablehnte – ebenso wie eine Kritische Ausgabe der Schriften Kafkas in den sechziger Jahren, für die er Einblick in einige in seinem Besitz befindlichen Manuskripte Kafkas hätte gewähren müssen (unter anderen Der Process).

Nach dem Tod Max Brods 1968 hatte seine Erbin Ilse Ester Hoffe das alleinige Verfügungsrecht sowohl über diese Manuskripte als auch über die erhaltenen Originale von Kafkas Zeichnungen. Für die 1982 schließlich begonnene Kritische Ausgabe kam es zwar zu einer Vereinbarung zwischen S. Fischer und Esther Hoffe, doch auch hier waren Kafkas Zeichnungen wiederum ausgenommen. Sie blieben in einem Banksafe in Zürich deponiert, Kopien durften nicht angefertigt werden, und somit blieben sie unsichtbar für die Öffentlichkeit wie für die Fachwelt.

Zeichnung Kafka zwei Figuren
© The National Library of Israel

Diese Situation änderte sich erst Jahrzehnte später grundlegend, als die jüdische Nationalbibliothek in Jerusalem den gesamten Nachlass Max Brods – einschließlich der darin enthaltenen Briefe, Schriften und Zeichnungen Kafkas – als Kulturerbe und öffentliches Eigentum reklamierte und nach fast 10-jährigem Prozess 2018 mit dieser Auffassung am Obersten Gericht Israels recht bekam. Nachdem die Schweiz dieses Urteil offiziell anerkannt hatte, konnten die Zürcher Safes der Familie Hoffe geöffnet und die darin enthaltenen Dokumente nach Jerusalem überführt werden.

Zeichnung Kafka einzelne Figur frontal
© The National Library of Israel

Dabei stellte sich heraus, dass noch mehr als 100 bislang unbekannte Zeichnungen Kafkas existierten, die sich überwiegend in einem ›Zeichnungsheft‹ befanden, teilweise aber auch als bloße ›Kritzeleien‹ am Rand von Vorlesungsskripten, die Brod ebenfalls aufbewahrt hatte.

Somit war nun erstmals – fast ein Jahrhundert nach Kafkas Tod – eine Gesamtedition aller überlieferter Zeichnungen möglich. Sie erschien 2021 im C.H. Beck Verlag, München, mit Prof. Andreas Kilcher von der ETH Zürich als Herausgeber und als Verfasser eines breit angelegten Essays über Kafkas künstlerische Interessen und zur Überlieferungsgeschichte der Zeichungen. Die Einzelkommentare zu den Zeichnungen verfasste der slowakisch-schweizerische Künstler Pavel Schmidt, ergänzt wird der Band durch einen Essay von Judith Butler.

 

 

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