Der Verschollene

Entstehung

Zwischen Ende 1911 und August 1912 schrieb Kafka eine erste Fassung des Verschollenen nieder, die jedoch unvollendet blieb und mit der er so unzufrieden war, dass er sie vollständig verwarf. Das Manuskript ist nicht erhalten, vermutlich hat Kafka es vernichtet.

Am 25. September 1912 begann er von vorn. Nur zwei Tage zuvor war es ihm zum ersten Mal gelungen, eine Erzählung (Das Urteil) in einer einzigen nächtlichen Sitzung zu Papier zu bringen. Kafka geriet in einen produktiven Rausch, der etwa vier Monate anhielt: Trotz seiner beruflichen Verpflichtungen und trotz der exzessiven Korrespondenz mit Felice Bauer (mit bis zu drei Briefen täglich) arbeitete er literarisch fast jede Nacht und vollendete sieben Kapitel des Verschollenen. Unterbrochen wurde diese Arbeit nur durch Die Verwandlung, die er ebenfalls in zügigem Tempo vollendete.

Obwohl Kafka die letzten Kapitel des Verschollenen wahrscheinlich klar vor Augen standen, gelang es ihm ab Ende Januar 1913 nicht mehr, die erforderliche Konzentration aufrecht zu erhalten. Erst im Herbst 1914 nahm er das Manuskript noch einmal vor und verfasste das Kapitel über ›Das Naturtheater von Oklahoma‹. Der Roman blieb jedoch unvollendet.

Quellen

Kafkas Ehrgeiz war es, das »allermodernste« Amerika zu schildern. Da er selbst aber niemals amerikanischen Boden betreten hatte, war er auf sekundäre Quellen angewiesen: Reisebücher, Vorträge, Fotos, die Berichte von Verwandten, vermutlich auch Eindrücke aus dem Kino. Der Verschollene ist das einzige Werk Kafkas, das auf gezielten und umfänglichen Recherchen beruht. Nur so war es möglich, ein einigermaßen realistisches Bild einer hektischen Massengesellschaft zu zeichnen, mit Streiks, Wahlkämpfen, Verkehrschaos, Akkordarbeit und gigantischen Betrieben.

Der Verschollene ist auch das einzige seiner Werke, das Kafka selbst auf literarische Einflüsse zurückgeführt hat. Den Namen Charles Dickens erwähnt er in diesem Zusammenhang mehrfach, das 1. Kapitel (Der Heizer) bezeichnet er im Tagebuch sogar als »glatte Dickensnachahmung«.

Thema und Form

Die Geschichte des 16-jährigen Karl Rossmann, der von seinen Eltern verstoßen und nach Amerika geschickt wird, hat die Form eines Stationendramas, wobei jede Station einen weiteren sozialen Abstieg bedeutet. Auf diese Weise kommt Karl mit Vertretern der verschiedensten sozialen Klassen in Berührung, vom Konzernherrn bis zur Prostituierten. Dem Leser bietet sich damit gleichsam ein Längsschnitt durch die amerikanische Gesellschaft.

Zugleich ist der Roman jedoch durchsetzt von den für Kafka typischen Verhör- und Gerichtsszenen, die in einem merkwürdigen Kontrast zur ausgestellten Modernität des Landes stehen. Tatsächlich ist das Kernmotiv des einsamen, verstoßenen Sohnes bereits aus Das Urteil und Die Verwandlung vertraut, obgleich es dort in einem völlig anderen Kontext und Milieu angesiedelt ist. Insofern ist es ein sehr subjektiver, literarischer, auch ›europäischer‹ Blick, den Kafka auf Amerika richtet.

Kafka selbst hat diese enge Verwandtschaft seiner Texte natürlich gesehen. Er schlug sogar vor, Das Urteil, Die Verwandlung und Der Heizer, das erste Kapitel des Verschollenen, in einem Band mit dem Titel Söhne zu vereinen.

Mit seiner raffinierten Erzähltechnik hebt sich Der Verschollene jedoch von den meisten anderen Werken Kafkas ab. Die Handlung ist fast ausschließlich aus der Sicht des Protagonisten geschildert (ein Verfahren, die dann im Process zur Vollendung geführt wurde), gleichzeitig bietet der Text jedoch eine Fülle von versteckten Details und Hinweisen, mit deren Hilfe der Leser rekonstruieren oder zumindest sich vorstellen kann, was hinter dem Rücken des unwissenden Helden vor sich geht. — Zum geplanten Schluss des Romans siehe ►hier.

Publikation

Zu Lebzeiten Kafkas wurde lediglich das 1. Kapitel veröffentlicht, Der Heizer, wobei Kafka auf dem Untertitel ›Ein Fragment‹ ausdrücklich bestand (Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1913). Das Manuskript des gesamten Romans wurde von Max Brod aus dem Nachlass herausgegeben, allerdings unter dem Titel Amerika (Kurt Wolff Verlag, München 1927).

1920 erschien Der Heizer auf Tschechisch, übertragen von Milena Jesenská.

 

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