Einführung

Was zählt zu Kafkas Werk? 

Kafkas Werke gelten seit langem als klassische Texte der europäischen Moderne. Dennoch werfen sie noch immer schwierige editorische Probleme auf, die nicht nur Herausgeber und Verlage, sondern auch die Leser unmittelbar betreffen.

Das liegt wesentlich daran, dass Kafka die weit überwiegende Zahl seiner literarischen Texte nicht vollendet und daher auch nicht veröffentlicht hat. Vor allem gilt das für seine drei Romane Der Verschollene, Der Process und Das Schloss: Sie blieben Fragment, werden aber dennoch zu Kafkas ›Werken‹ gezählt, ebenso wie die unvollendeten Erzählungen Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, Der Bau und andere. Daneben gibt es literarische Projekte, zu denen mehrere Anläufe überliefert sind und bei denen wir die Gestalt des geplanten Werks lediglich erahnen können: Dazu zählen etwa die Fragmente zu Kafkas einzigem bekannten Bühnenwerk Der Gruftwächter. Schließlich finden sich in Kafkas Heften Hunderte kürzerer Fragmente, die aus wenigen Sätzen oder gar nur aus einem einzigen bildhaften Einfall bestehen.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die Grenze zwischen literarischen und ›privaten‹ Texten bei Kafka nicht immer klar zu ziehen ist. Etliche seiner Briefe und Tagebuchaufzeichnungen haben höchste sprachliche und formale Qualität, sie sind ›Literatur‹, ohne dass man sie deshalb umstandslos zu den Werken zählen dürfte. Auch hat Kafka für literarische Versuche und private Aufzeichnungen häufig ein und dieselben Hefte verwendet, wodurch die Grenzen weiter verwischt werden.

Wie ediert man Kafkas Werk?

Angesichts dieser besonders unübersichtlichen Quellenlage – viel Handschriftliches, wenig Gedrucktes – besteht heute Einigkeit darüber, dass Kafkas Texte möglichst in genau der Form und Anordnung gedruckt werden sollten, in der sie überliefert sind.

Dazu bieten sich grundsätzlich zwei Verfahren an: Entweder macht man Streichungen, Verbesserungen, Einfügungen oder andere Besonderheiten der Handschrift durch eigens definierte ›diakritische‹ Zeichen kenntlich. So verfährt die Kritische Ausgabe, die seit Anfang der achtziger Jahre im S. Fischer Verlag erscheint und die nahezu abgeschlossen ist (der vierte von fünf Briefbänden erschien 2013). Die zweite Möglichkeit besteht darin, jedes von Kafka beschriebene Blatt als Faksimile zu publizieren; diesen Weg beschritt der Stroemfeld Verlag mit seiner 1995 begonnenen Historisch-kritischen Ausgabe (die inzwischen vom Wallstein Verlag fortgeführt wird).

Beide Editionen bieten dem Leser weitaus mehr als die älteren, noch von Max Brod herausgegebenen Gesamtausgaben. Allerdings fordern sie vom Leser auch eine gewisse Umgewöhnung: In vielen Fällen muss er die Entscheidung nun selbst treffen, ob es sich bei einem Entwurf oder einem Fragment schon um ein literarisches Werk im eigentlichen Sinne handelt.

Das Problem der Werktitel 

Auch hinsichtlich der Titel von Kafkas Werken müssen sich die Leser neu orientieren. Denn viele Fragmente und sogar einige kürzere abgeschlossene Texte tragen im Manuskript überhaupt keinen Titel. In solchen Fällen hat Max Brod häufig eigene Titelformulierungen gewählt, die sich im Lauf der Zeit durchsetzten, nicht zuletzt durch Übersetzungen in andere Sprachen. So ist zum Beispiel Die Wahrheit über Sancho Pansa kein originaler Titel Kafkas, ebenso wenig Forschungen eines Hundes oder Das Schweigen der Sirenen. (Siehe dazu das Verzeichnis ›Sämtliche Titel‹.)

Derartige Eingriffe sind natürlich in Kritischen Editionen nicht zulässig, die entsprechenden Texte erscheinen dort wieder ohne Titel. Ein besonderer Fall ist das Romanfragment Der Verschollene. Max Brod gab dieses Werk unter dem selbst gewählten Titel Amerika heraus, während Kafka in einem Brief, den Brod noch nicht kannte, eindeutig Der Verschollene als verbindlichen Romantitel nennt.

Genannte Titel

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