Drei Briefe an den Vater

Kafkas umfangreicher Brief an seinen Vater, den er Mitte November 1919 in Schelesen verfasste, gilt heute als eine der eindrucksvollsten und paradigmatischen Auseinandersetzungen mit dem ›Vater-Problem‹. Weniger bekannt ist, dass es zu diesem Brief einen Vorläufer gibt, den Kafka jedoch schon nach wenigen Seiten aufgab. Im Gegensatz zu dem vollendeten Brief ist dieser frühere Entwurf noch formell an die Eltern gerichtet, der angesprochene Adressat ist jedoch allein der Vater:

 

Liebe Eltern, an dem Abend, an welchem Hugo Kaufmann zum letztenmal bei uns war und Du Vater, Karl und Hugo über verschiedene geschäftliche und Familienangelegenheiten gesprochen habt, hörte ich später aus dem Badezimmer, wie Du der Mutter gegenüber Dich über meine Teilnahmslosigkeit bei jenem Gespräche beklagtest. Es war nicht das erste Mal, dass ich einen solchen Vorwurf von Dir Vater hörte und Du hast mir ihn nicht nur durch Türen, sondern auch schon unmittelbar ins Gesicht gesagt und es war auch nicht nur der Vorwurf der Teilnahmslosigkeit allein, wie schwer er auch an sich schon ist, den Du Vater mir gemacht hast – trotzdem wurde ich gerade an jenem Abend von dem Vorwurf, den ich nicht einmal ganz deutlich gehört hatte, trauriger noch, als sonst. Ich suchte lange einen Ausweg, bis mir endlich im Bett einfiel, ich könnte Dir, wenn Du jetzt während der Kur Zeit zum Lesen hättest, einen Brief schreiben und alles darin erklären. In der Freude, die mir dieser Einfall machte, fielen mir gleich 100 Dinge ein, die ich zu schreiben hätte, und überdies noch ein System, das sie vollkommen überzeugend machen sollte. Am Morgen aber war die Freude über den Einfall noch da und ist es noch heute, aber das Vertrauen in meine Fähigkeit, ihn auszuführen, fehlt mir, trotzdem es sich schliesslich um die einfachsten Dinge handelt. Ich fange den Brief also ohne Selbstvertrauen an und nur in der Hoffnung, dass Du Vater mich trotz allem noch lieb hast und besser lesen wirst, als ich schreibe.

Darin Vater sind wir, wenn Du ein wenig zurückdenkst, sicher einig, dass unser Verhältnis in den letzten Jahren zu Zeiten ein fast unerträgliches gewesen ist. (Mein Verhältnis zur Mutter ist vielleicht im Wesen nicht anders, aber ihre grenzenlose Uneigennützigkeit, die mir alle meine Pflichten ihr gegenüber abnimmt, lässt das nicht erkennen und kaum fühlen.) Die Schuld an der Unerträglichkeit dieses Verhältnisses trage ich, nur ich. Ich habe mich um Deine Angelegenheiten im allgemeinen nicht so bekümmert, wie es (an Sohnespflichten gar nicht zu denken) ein beliebiger Bekannter getan hätte und wenn ich mich einmal gekümmert habe, dann hat man mir den Zwang angesehn; ich habe meine Pflichten gegen die Schwestern nicht erfüllt und Dir in dieser Hinsicht keine Sorgen abgenommen;

 

Dieser nicht datierbare Entwurf ist im Ton weitaus defensiver als der vollendete Brief; er ist daher sicherlich vor 1919, möglicherweise Jahre früher entstanden (Hans-Gerd Koch, der Herausgeber der Briefe Kafkas, hält Mai 1918 für das wahrscheinlichste Datum). Offenbar waren zur Zeit des Entwurfs einige familieninterne Konflikte, bei denen sich Hermann Kafka nach Ansicht seines Sohnes eindeutig ins Unrecht setzte, noch nicht auf der Tagesordnung, insbesondere die Entfremdung Hermanns von seiner Tochter Ottla und der Konflikt um Kafkas neuerliche Verlobung. Als Kafka im September 1919 seinen Eltern eröffnete, dass er die aus einfachen Verhältnissen stammende Julie Wohryzek heiraten werde, wurde er von seinem Vater beschimpft und gedemütigt. Nach diesem Eklat hatte Kafka viel eher das Bedürfnis nach Abrechnung als nach bloßer Selbstrechtfertigung.

Neben dem Entwurf und dem berühmt gewordenen Brief gab es noch mindestens einen weiteren Versuch Kafkas, Differenzen mit dem Vater auf schriftlichem Weg beizulegen. Als er im April 1918 nach mehrmonatigem Aufenthalt auf einem von seiner Schwester Ottla bewirtschafteten Hof in die elterliche Wohnung in Prag zurückkehrte, sandte er seinem Vater einen vorbereitenden Brief, in dem er offenbar recht unangenehme Themen anschnitt, insbesondere die Abneigung des Vaters gegen das bäuerliche Leben Ottlas – eine Abneigung, die so intensiv war, dass ihn zeitweilig schon die bloße Erwähnung seiner jüngsten Tochter aufbrachte. Erhalten ist dieser Brief nicht, seine Spur findet sich jedoch in einem unveröffentlichten Brief von Kafkas Kusine Irma, die im Galanteriewarengeschäft seines Vaters arbeitete und dessen Launen besonders ausgesetzt war, an die mit ihr eng befreundete Ottla. Am 25. April 1918, fünf Tage vor Kafkas Rückkehr nach Prag, beklagt sie sich bei Ottla darüber, »was mir Franz eingebrockt hat mit seinem Brief an den Vater«.

 

Quelle: Franz Kafka, Brief an den Vater, hrsg. von Joachim Unseld, Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch Verlag) 1994, S. 207ff.