Ein Flirt

[16. Oktober 1911]

Anstrengender Sonntag gestern. Dem Vater hat das ganze Personal gekündigt. […] Nachmittag nach Radotin, um den Contoristen zu halten. […] Auf und ab im Hof des Herrn Haman, ein Hund legt eine Pfote auf meine Fussspitze, die ich schaukle. Kinder, Hühner, hie und da Erwachsene. Ein zeitweise auf der Pawlatsche heruntergebeugtes oder hinter einer Tür sich versteckendes Kindermädchen hat Lust auf mich. Ich weiss unter ihren Blicken nicht, was ich gerade bin, ob gleichgültig, verschämt, jung oder alt, frech oder anhänglich, Hände hinten oder vorn haltend, frierend oder heiss, Tierliebhaber oder Geschäftsmann, Freund des Haman oder Bittsteller, den Versammlungsteilnehmern, die manchmal in einer ununterbrochenen Schleife aus dem Lokal ins Pissoir und zurückgehn überlegen oder infolge meines leichten Anzugs lächerlich, ob Jude oder Christ u.s.w. Das Herumgehn, Naseabwischen, hie und da im Pan lesen, furchtsam mit den Augen die Pawlatsche meiden, um sie plötzlich als leer zu erkennen, dem Geflügel zuschauen, sich von einem Mann grüssen zu lassen, durch das Wirtshausfenster die flach und schief neben einander gestellten Gesichter der einem Redner zugewendeten Männer zu sehn, alles hilft dazu. […]

[17. Oktober 1911]

[…] weiter in Radotin: ich gieng dann allein frierend im Wiesengarten herum, erkannte dann im offenen Fenster das mit mir auf diese Seite des Hauses gewanderte Kindermädchen –

[20. Oktober 1911]

[…] weiter in Radotin: lud sie ein herunterzukommen. Die erste Antwort war ernst, trotzdem sie bisher mit dem ihr anvertrauten Mädchen zu mir hinüber so gekichert und kokettiert hatte, wie sie es von dem Augenblick an, wo wir bekannt waren, nie gewagt hätte. Wir lachten dann viel zusammen, trotzdem ich unten und sie oben beim offenen Fenster fror. Sie drückte ihre Brüste an die gekreuzten Arme und alles mit offenbar gebeugten Knien an die Fensterbrüstung. Sie war 17 Jahre alt und hielt mich für 15-16jährig, wovon sie durch unser ganzes Gespräch nicht abgebracht wurde. Ihre kleine Nase gieng ein wenig schief und warf daher einen ungewöhnlichen Schatten auf die Wange, der mir allerdings nicht helfen könnte, sie wieder zu erkennen. Sie war nicht aus Radotin, sondern aus Chuchle (die nächste Station gegen Prag) was sie nicht vergessen lassen wollte. Dann Spaziergang mit dem Contoristen, der auch ohne meine Reise in unserem Geschäft geblieben wäre, im Dunkel auf der Landstrasse aus Radotin heraus und zurück zum Bahnhof. […]

 

Mitte Oktober 1911 traf die Eltern Kafkas ein harter Schlag: Nicht nur kündigte völlig überraschend der Geschäftsführer ihrer Galanteriewarenhandlung, um ein eigenes Geschäft zu gründen; es stellte sich auch heraus, dass ihr gesamtes übriges Personal bereits versprochen hatte, in das neue Geschäft überzuwechseln.

Durch Überredung und vermutlich auch durch materielle Zugeständnisse konnte Hermann Kafka einige seiner Angestellten umstimmen. Seinen eloquenten Sohn Franz beauftragte er, am Sonntag, den 15. Oktober, zunächst einen in Prag-Žižkov wohnenden Buchhalter zur Umkehr zu bewegen (was misslang), und dann am Nachmittag in das ca. 15 km südlich von Prag gelegene Radotin zu fahren, um dort einem weiteren Angestellten, einem Kontoristen, ins Gewissen zu reden. Am selben Tag erschien im Prager Tagblatt eine Anzeige, mit der für das Geschäft der Kafkas ein deutsch und tschechisch sprechender Geschäftsführer, ein Ladengehilfe und eine weibliche Bürokraft gesucht wurden.

Kafka begab sich in Radotin zunächst zu einem Freund seines Vaters – demselben, der den Kontoristen vermittelt hatte –, um ihm die Situation zu schildern. Da sich dieser potenzielle Helfer jedoch in einer Versammlung aufhielt, musste der (wie häufig) zu dünn bekleidete Kafka vor dem Lokal warten und vertrieb sich dort die Zeit mit einem Flirt.

Dass er für einen Knaben gehalten und daher nicht ganz ernst genommen wurde, war für den bereits 28-jährigen Kafka keine neue Erfahrung. Eine ähnliche Verkennung erlebte er noch fast ein Jahrzehnt später (siehe das Fundstück ›Kein Trinkgeld für Kafka‹).

Kafkas Aufzeichnungen belegen, dass ihn weniger die Sorge um das Geschäft der Eltern als vielmehr die zahlreichen Begegnungen dieses Sonntags noch tagelang beschäftigten.

 

Quelle: Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1990, S. 83-92.