Ein Komma zu viel

NFP 1920-09-05 S29 Inserat
S. Fischer Verlag

Hier ist das Inserat, es hätte wohl ein wenig scharfsinniger und verständlicher gemacht werden können, besonders die »Wiener Handels- und Sprachschulen« stehn dort verlassen und sinnlos; den Beistrich nach Lehrerin habe allerdings ich nicht gemacht. Sag übrigens was Du verbessert haben willst und ich lasse es nächstens abändern. Vorläufig ist es also am 26 erschienen und erscheint zunächst am 1, 5 und 12.

Milena Jesenská erteilte Tschechischunterricht an einer Wiener Handelsschule, suchte aber wegen ihrer desolaten finanziellen Situation dringend auch nach privaten Schülern. Da sie sich im Sommer 1920 für einige Wochen in Salzburg und St. Gilgen aufhielt, bat sie Kafka, für sie eine entsprechende deutschsprachige Anzeige in der Wiener Neuen Freien Presse aufzugeben.

Die von Kafka formulierte und in einem Prager Inseratenbüro eingereichte Anzeige erschien erstmals am 26. August (siehe obere Abbildung). Zu seinem Unmut hatte jedoch der Setzer nicht erkannt, dass die »Wiener Handels- und Sprachschulen« hier im Genetiv stehen, und hatte daher ein irritierendes Komma eingefügt. Mit diesem Fehler, der sich nachträglich nicht mehr korrigieren ließ, erschien das Inserat im September noch weitere drei Male.

Kafkas Bemerkung gegenüber Milena lässt erkennen, dass er sich mangelnde Klarheit selbst bei einem derartigen Gebrauchstext nicht ohne weiteres verzieh. Als er zwei Monate später erneut für sie inserierte, wollte er es besser machen und formulierte den Text so um, dass grammatische Missverständnisse ausgeschlossen waren (siehe untere Abbildung). Diese Version erschien in der Neuen Freien Presse dreimal im November 1920.

Ob die Inserate Erfolg hatten, ist nicht überliefert; es ist jedoch zweifelhaft, da sich Milena Jesenská ab Winter 1920/21 ganz auf ihre Tätigkeiten als Journalistin und Übersetzerin konzentrierte. Außerdem war die Konkurrenz groß, denn noch immer lebten in Wien mehr als 80.000 Menschen mit Tschechisch als Umgangssprache.

 

Quelle: Brief an Milena Jesenská, 26./27. August 1920, in: Franz Kafka, Briefe 1918–1920, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2013, S. 321.