Kafka fährt Karussell

Der Tanzboden, zweigeteilt, in der Mitte abgeteilt in einem zweireihigen Verschlag die Musikkapelle. Vorläufig leer, kleine Mädchen lassen sich über die glatten Bretter gleiten. [...] Ich biete ihnen meine »Brause« an, sie trinken, die Älteste zuerst. Mangel einer wahren Verkehrssprache. Ich frage, ob sie schon genachtmahlt haben, vollständiges Unverständnis, Dr. Schiller fragt, ob sie schon Abendbrot gegessen haben, beginnende Ahnung, (er spricht nicht deutlich, atmet zu viel) erst bis der Friseur fragt, ob sie gefuttert haben, können sie antworten. Eine zweite Brause, die ich für sie bestelle, wollen sie nicht mehr, aber Karousselfahren wollen sie, ich mit den 6 Mädchen (von 6–13 Jahren) um mich fliege zum Karoussel. Am Weg rühmt sich die eine, die zum Karousselfahren geraten hat, dass das Karoussel ihren Eltern gehört. Wir setzen uns und drehn uns in einer Kutsche. Die Freundinnen um mich, eine auf meinen Knien. Sich hinzudrängende Mädchen, welche mein Geld mitgeniessen wollen, werden gegen meinen Willen von den Meinigen weggestossen. Die Besitzerstochter kontrolliert die Rechnung, damit ich nicht für die Fremden zahle. Ich bin bereit, wenn man Lust hat, noch einmal zu fahren, die Besitzerstochter selbst sagt aber, dass es genug ist, jedoch will sie ins Zuckerzeugzelt. Ich in meiner Dummheit und Neugierde führe sie zum Glücksrad. Sie gehn, soweit es möglich ist, sehr bescheiden mit meinem Geld um. Dann zum Zuckerzeug. Ein Zelt mit einem grossen Vorrat, der so rein und geordnet ist, wie in der Hauptstrasse einer Stadt. Dabei sind es billige Waren, wie auf unseren Märkten auch. Dann gehn wir zum Tanzboden zurück. Ich fühlte das Erlebnis der Mädchen stärker als mein Schenken. Jetzt trinken sie auch wieder die Brause und danken schön, die Älteste für alle und jede für sich. Bei Beginn des Tanzes müssen wir weg, es ist schon ¾ 10.

 

Eintrag in Kafkas Reisetagebuch unter dem Datum des 16. Juli 1912. Der Text gehört zur Schilderung eines Ausflugs von der Kuranstalt Jungborn (Harz) zu einem Schützenfest in Stapelburg, den Kafka gemeinsam mit einem Friseur aus Berlin und einem Magistratsbeamten Dr. Schiller aus Breslau unternahm.

Quelle: Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1990, S. 1050f.