Kafka ist wütend (II)

Ich habe fast kein unmittelbares Interesse an der Fabrik, desto mehr aber mittelbares. Ich will nicht dass des Vaters Geld, das er auf meinen Rat und meine Bitte K[arl] zur Verfügung gestellt hat, verloren geht das ist meine erste Sorge, ich will nicht dass des Onkels Geld verloren geht, das er nicht so sehr K[arl] als uns geborgt hat, das ist meine zweite Sorge und ich will auch nicht, dass E[llis] und der K[inder] Geld verloren geht, das ist meine dritte Sorge. Von meinem Geld und meiner Haftpflicht spreche ich gar nicht. Nun halte ich aber das Ganze durchaus nicht für mehr gefährdet, als bei diesen Zeitumständen alles gefährdet ist. Ich habe natürlich auch vollständiges Vertrauen zu Euch; dass Du im Laufe des letzten ¼ Jahres an 1500 K wenigstens nach dem Kassabuch entnommen hast, beirrt mich darin nicht im Geringsten, Du hast 400 K nach dem Kassabuch eingezahlt, wirst gewiss auch das übrige zurückzahlen und handelst wahrscheinlich im Sinne Karls. Allerdings wusste ich nichts davon, sondern erfuhr es erst aus dem Buch – es ist dort in der letzten Zeit übrigens kein Datum eingetragen – und war also aus diesem Grunde und weil doch in dieser Zeit die Gebarung der Fabrik besonders empfindlich ist, darüber erstaunt sonst nichts, ich war bloss erstaunt und habe es zur Kenntnis genommen. Damit war die Sache erledigt.

Ich schicke voraus, dass ich der Berichterstattung von Elli nicht vollständig glaube, Du hast sie in grosse Aufregung gebracht, sie ist überdies jetzt während des Krieges in fortwährender Aufregung und darin verliert sie dann den Überblick. Selbst wenn ich aber vieles von dem was sie erzählt hat, als blosse Phantasie auffasse, so scheint doch genug übrig zu bleiben, um anzunehmen, dass Du sie, nebenbei gesagt hier vor den Mädchen, unerhört behandelt hast. Du hast vergessen dass sie eine Frau ist und dass sie die Frau Deines Bruders ist.

»Sie hat hier aufgelauert und hat Dich dann hergeschickt.« Das ist eine Unwahrheit und eine beleidigende Unwahrheit. Ich glaube, Du hattest und hast die vollständigste Freiheit, die man sich nur ausdenken kann. Du arbeitest gewiss ausgezeichnet, daran habe ich gar keinen Zweifel. Die Sorgen, die ich um die Fabrik habe, sind ganz anderer Art als Deine, sie sind vollständig passiv, aber deshalb nicht weniger schwer. Du trägst die Verantwortung für die Arbeit (und trägst im Grunde nichts anderes als das) ich aber trage die Verantwortung für das Geld. Ich trage die Verantwortung gegenüber dem Vater und dem Onkel. Unterschätze das nicht, wäre es mein Geld, es wäre, glaube mir, kinderleicht für mich, die Sorge zu tragen. Aber ich trage leider bloss die Sorgen, kann aber sonst aus Gründen, die allerdings hauptsächlich in mir liegen nicht selbst eingreifen. Alles was ich tue ist dass ich einmal im Monat herkomme und ein zwei Stunden hier sitze. Das ist an sich sinnlos, schadet und nützt niemanden und ist nur ein vergeblicher Versuch meinem Verantwortlichkeitsgefühl und meinen Sorgen zu entsprechen. Dass Du auch daran etwas auszusetzen findest, ist ebenso lächerlich als anmassend. Ich bin nicht hergekommen um das Kassabuch anzusehn, das ist unwahr, trotzdem ich berechtigt und verpflichtet gewesen wäre, es zu tun; ich bin vielmehr hergekommen zu dem gleichen selbstsüchtigen Zweck, wie immer, nämlich um mich zu beruhigen; dass Du weg warst, wäre für mich eher eine Veranlassung gewesen, nicht hinzugehn, denn ich will ja eben immer Dich hören. Trotzdem gieng ich her, weil es mir gerade passte und weil ich auch sehen wollte, ob nicht in Deiner Abwesenheit irgendetwas Wichtiges sich ereignet hat. Dass ich gerade das Kassabuch durchgesehen habe, war Zufall und Zerstreutheit, ich hätte ebensogut beispielsweise die Gummizeitung durchsehn können. Dann fand ich allerdings im Kassabuch einige Posten, die mich begreiflicher Weise interessierten.

Du sollst auch eine abfällige Bemerkung darüber gemacht haben, dass der Vater dafür, dass E[lli] u. die K[inder] bei uns leben, eine Entschädigung annimmt. Was geht Dich denn das an? Wie darfst Du denn darüber urteilen.

 

Es handelt sich um den Entwurf eines Briefs, niedergeschrieben wahrscheinlich am 25. November 1914, gerichtet an Paul Hermann, den Bruder von Karl Hermann, der mit Kafkas Schwester Elli verheiratet war.

Anlass waren Streitigkeiten um die Buchführung der ›Prager Asbestwerke Hermann & Co.‹, einer 1911 gegründeten Werkstatt, in die Kafkas Vater, sein Onkel Alfred Löwy sowie er selbst Geld investiert hatten. Um diese Firma hatte es schon häufig familieninterne Konflikte gegeben – vor allem, weil der juristisch beschlagene Kafka, obwohl Teilhaber, keinerlei Interesse daran zeigte, seiner Verantwortung als Hüter des eingesetzten Familienkapitals nachzukommen.

Die Situation verschärfte sich mit Kriegsbeginn, da Karl Hermann als Offizier eingezogen wurde und die Geschäfte seinem Bruder Paul überließ, während Elli mit ihren beiden Kindern wieder zu den Eltern zog. Paul Hermann, der Prokura erhielt, wurde von den Kafkas und selbst von seiner Schwägerin Elli offenbar mit Misstrauen beobachtet, und dieses Misstrauen schien sich nun zu bestätigen, als Kafka verdächtige Kontobewegungen entdeckte.

Der Briefentwurf ist eines der sonderbarsten Beispiele für Kafkas gehemmte Aggression. Denn anstatt Paul Hermann einfach zu fragen, was es mit den Geldentnahmen auf sich hat, entschuldigt er sich gleichsam dafür, dass er einen Blick in die Geschäftsbücher geworfen hat – wozu er als Teilhaber doch jedes Recht hatte. Kafka ist hier deutlich zerrissen zwischen dem, was die Familie von ihm erwartet – nämlich, Paul Hermann unter schärfere Kontrolle zu nehmen –, und seinem Widerwillen dagegen, jemanden ohne zwingenden Grund zu verurteilen, noch dazu einen Verwandten, der sich viel intensiver um die Fabrik kümmert als er selbst. Tatsächlich wütend macht ihn nicht der drohende Kapitalverlust, sondern die persönliche Anmaßung Pauls gegenüber Elli – vor den Ohren des Personals.

 

Quelle: Franz Kafka, Briefe 1914–1917, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2005, S. 113f.