Kafka möchte sein wie Voltaire

Jean_Huber Voltaire
Musée Carnavalet, Paris, France

Kafka blieb vor einem alten Stich stehen, der eine Episode aus dem Leben Voltaires zeigt; von dieser Darstellung konnte er sich nicht losreißen, auch später sprach er oft von ihr: Man sieht Voltaire, der eben aus dem Bett aufgesprungen ist, er hat noch die Nachtmütze auf dem Kopf – und, die eine Hand befehlend ausgestreckt, während er mit der andern die Hose hält, in die er schlüpft, beginnt er schon blitzenden Auges seinem Diener, der seitwärts an einem Tischchen sitzt, etwas zu diktieren. Ich verstand wohl, was Kafka an dem Stich […] so sehr bezauberte: das Feuer des Geistes, die direkt in Geist umgesetzte ungemeine Vitalität eines auserkorenen Menschen.

 

Das Pathos von Max Brods Schilderung führt ein wenig in die Irre: Tatsächlich bewunderte Kafka nicht nur »auserkorene« Menschen, sondern schlechterdings jeden, der produktiv, geistesgegenwärtig und konzentriert einer selbstbestimmten Arbeit nachging, ohne sich von inneren oder äußeren Störungen ablenken zu lassen. Ein Schriftsteller, der des Morgens zu diktieren beginnt, noch ehe er seine Hosen anhat, war daher für Kafka eine besondere Attraktion – vor allem, wenn er an die eigenen im Büro verbrachten Vormittage und an seine fragile, irritierbare und immer wieder für Monate aussetzende literarische Produktivität dachte.

Kafka und Brod sahen das Ölgemälde Jean Hubers am 13. Oktober 1910 im Musée Carnavalet in Paris. Der schweizer Jurist Jean Huber (1721-1786) gehörte in Genf zum Freundeskreis Voltaires; noch zu Lebzeiten wurde er für seine zahlreichen, teils karikaturistischen Porträts Voltaires so berühmt, dass man ihn den ›Voltaire-Huber‹ nannte. Katharina II. bestellte bei ihm sogar eine ganze Serie häuslicher Szenen aus dem Leben des Philosophen (die später einem Brand zum Opfer fielen). Auch das Motiv, das Kafka im Pariser Museum bewunderte, malte Huber auf Bestellung in mehreren Versionen – teils mit, teils ohne Hund.

 

Quelle: Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt am Main 1974, S. 231. – Vgl. die Schilderung derselben Episode in: Max Brod, Streitbares Leben, Autobiographie 1884-1968, Frankfurt am Main 1979, S. 188: »Er sah mich groß an, als wolle er sagen: ›Siehst du, siehst du – so muß es sein, so muß der Geist über einen kommen‹, und noch mehrmals kehrte er bei seinem Rundgang zu der passionierten Darstellung zurück, immer aufs neue entzückt.«