Kafka schreibt ein Gedicht und liebt es

Von Kafka sind nur gelegentliche lyrische Versuche überliefert, meist wenige hingeworfene Verse ohne Titel. Weder in den autobiografischen Zeugnissen noch in Max Brods Erinnerungen ist je die Rede davon, dass Kafka an die Veröffentlichung dieser Zeilen dachte. Auch hat er niemals den Versuch unternommen, seine lyrische Begabung durch ein umfänglicheres Werk auf die Probe zu stellen (wie er es für die Form des Dramas mit dem Gruftwächter unternahm).

Es ist jedoch vorgekommen, dass Kafka eigene Verse schätzte und der Überlieferung für wert hielt. So findet sich auf einem Kalenderblatt vom 17. September 1909 das folgende titellose Gedicht:
 

 Kleine Seele
 springst im Tanze
 legst in warme Luft den Kopf
 hebst die Füsse aus glänzendem Grase
 das der Wind in zarte Bewegung treibt


Dieses Gedicht behielt Kafka im Gedächtnis; etwa zwei Jahre später trug er es spontan in ein Stammbuch ein, das ihm ein Bekannter aus dem Kaffeehaus vorlegte (ein Hofrat namens Anton Max Pachinger, ein Freund Alfred Kubins).

Außerdem bewahrte Kafka das Kalenderblatt mit der Handschrift sorgfältig auf. Erhalten blieb es zwischen den Seiten eines der Oktavhefte, die er 1917/18 in Zürau benutzte, wo er für acht Monate auf dem Gut seiner Schwester Ottla lebte. Entweder hat Kafka das Blatt selbst dort eingelegt, während das Heft bereits in Benutzung war, möglicherweise während eines kurzen Besuchs in Prag. Oder das Gedicht geriet versehentlich in das Zürauer Heft, als Max Brod an Kafkas Nachlass arbeitete. Auch dies würde jedoch voraussetzen, dass Kafka das Kalenderblatt bis zu seinem Tod aufbewahrte, denn Einblick in die Oktavhefte erhielt Brod erst danach.

 

Quellen: Tagebucheintrag vom 26. November 1911, in: Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1990, Seite 274. Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente, Band II, Apparatband, hrsg. von Jost Schillemeit, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1992, S. 46.