Kafka spuckt vom Balkon

Während seiner Zeit als Fellow der American Academy in Berlin im Jahr 2000 machte der Kafka-Übersetzer Mark Harman den Versuch, die legendären ›Puppenbriefe‹ Kafkas wieder aufzufinden. Seine Bemühungen blieben erfolglos; doch erreichte ihn der Anruf einer 92-jährigen Frau, die sich an Kafka noch erinnern konnte: Christine Geyer, die Tochter des Schriftstellers Carl Busse (gestorben 1918) und dessen Ehefrau Paula, bei der Kafka und Dora Diamant von Februar bis März 1924 als Mieter gelebt hatten (in Berlin-Zehlendorf, damals Heidestraße 25-26, heute Busseallee 7-9).

Christine Geyer berichtete, ihre Mutter habe ihr Kafka als den Chemiker »Dr. Käsbohrer« vorgestellt, und dessen wahre Identität habe sie erst nach seinem Auszug erfahren. Dass Kafka – der sich schon zu kleinen Notlügen kaum überwinden konnte – seinen tatsächlichen Namen wochenlang verheimlicht haben sollte, wäre erstaunlich, aber nach seinen schlechten Erfahrungen mit der vorherigen Vermieterin immerhin denkbar. Ebenso gut kann es aber auch die Hausbesitzerin selbst gewesen sein, die Gerede in der Nachbarschaft oder in der Schule vermeiden wollte und die daher einen eindeutig nicht-jüdischen Mieter bevorzugte (obwohl sie selbst konvertierte Jüdin war).

Christine Geyer erzählte eine weitere Begebenheit:
 

»Wir hatten eine Laube, da war mit der Zeit ein richtiges Laubdach gewachsen, und Kafka sah von seinem Balkon direkt darauf. Ich spielte dort immer mit meiner Freundin, wir hatten dort eine Bank, auf die mein Vater ›Freundschaftsbänkchen für zwei junge Gänschen‹ geschrieben hatte. Und eines Tages – da war er schon sehr krank –, da hörten wir etwas, er konnte uns ja nicht sehen: wie er seinen Schleim da runtergespuckt hat. Das ging so ein paar Tage, und dann hab ich’s Mutti erzählt, und die war entsetzt – Kafka hat natürlich keine Ahnung gehabt, dass da Kinder unten sind –, und dann hat Mutti uns verboten, in die Laube zu gehen. Aber da konnte er ja nichts für. Er hatte eine sehr nette Art: Ein netter Onkel, will ich mal sagen.«

 

Ob der tuberkulosekranke, stark abgemagerte und ständig hustende Kafka je zur Rede gestellt wurde, ist nicht überliefert. Mit dem eigenen Auswurf Kinder anzustecken, und sei es aus Unwissenheit, wäre ihm wohl verbrecherisch erschienen.

Nach nicht einmal sieben Wochen im Haus der Frau Busse musste Kafka aus gesundheitlichen Gründen Berlin verlassen. Seine Vermieterin überlebte später das Konzentrationslager Theresienstadt. Christine Geyer starb am 31. Januar 2009 im Alter von 100 Jahren.

 

Quellen: Die Zeit, 02/2001. Mark Harman, ›Missing Persons: Two Little Riddles About Kafka and Berlin‹, www.kafka.org