Kafka fährt U-Bahn

MetroParis
Roland Templin, Berlin.

Die Metro schien mir damals sehr leer, besonders wenn ich es mit jener Fahrt vergleiche, als ich krank und allein zum Rennen gefahren bin. Das Aussehn der Metro unterliegt auch abgesehn vom Besuch dem Einfluss des Sonntags. Die dunkle Stahlfarbe der Wände überwog. Die Arbeit der die Waggontüren auf- und zuschiebenden und dazwischen sich hinein und herausschwingenden Schaffner stellte sich als eine Sonntagnachmittagsarbeit heraus. Die langen Wege zur Correspondence [d.h. beim Umsteigen] wurden langsam gegangen. Die unnatürliche Gleichgültigkeit der Passagiere mit der sie die Fahrt in der Metro hinnehmen wurde deutlicher. Das sich gegen die Glastüre wenden, das Aussteigen einzelner an unbekannten Stationen weit von der Oper wird als launenhaft empfunden. Sicher ist in den Stationen trotz der elektr. Beleuchtung das wechselnde Tageslicht zu bemerken, besonders wenn man gerade heruntergestiegen ist, merkt man es, besonders dieses Nachmittagslicht, knapp vor der Verdunkelung. Die Einfahrt in die leere Endstation der porte Dauphine, Menge von sichtbar werdenden Röhren, Einblick in die Schleife, wo die Züge die einzige Kurve machen dürfen nach so langer geradliniger Fahrt. Tunnelfahrten in der Eisenbahn sind viel ärger, keine Spur von der Bedrückung, die der Passagier unter dem wenn auch zurückgehaltenen Druck der Bergmassen fühlt. Man ist auch nicht weit von den Menschen sondern eine städtische Einrichtung, wie z.B. das Wasser in den Leitungen. Das Zurückspringen beim Aussteigen, mit dem dann folgenden verstärkten Vorgehn. Dieses Aussteigen auf ein gleiches Niveau. Meist verlassene kleine Schreibzimmer mit Telephon und Läutewerk dirigieren den Betrieb. Max schaut gern hinein. Schrecklich war der Lärm der Metro, als ich mit ihr zum erstenmal im Leben vom Montmartre auf die großen Boulevards gefahren bin. Sonst ist er nicht arg, verstärkt sogar das angenehme ruhige Gefühl der Schnelligkeit. Die Reklame von Dubonnet ist sehr geeignet von traurigen und unbeschäftigten Passagieren gelesen, erwartet und beobachtet zu werden. Ausschaltung der Sprache aus dem Verkehr, da man weder beim Zahlen, noch beim Ein- u. Aussteigen zu reden hat. Die Metro ist wegen ihrer leichten Verständlichkeit für einen erwartungsvollen und schwächlichen Fremden, die beste Gelegenheit, sich den Glauben zu verschaffen, richtig und rasch im ersten Anlauf in das Wesen von Paris eingedrungen zu sein.

Die Fremden erkennt man daran, dass sie oben schon auf dem letzten Absatz der Metrotreppe sich nicht mehr auskennen, sie verlieren sich nicht, wie die Pariser, aus der Metro übergangslos in das Strassenleben. Auch stimmt beim Herauskommen die Wirklichkeit erst langsam mit der Karte überein, da wir auf diesen Platz, wo wir jetzt nach dem Heraufkommen hingestellt sind, niemals zu Fuss oder zu Wagen gekommen wären, ohne Führung der Karte.

Gemeinsam mit Max Brod reiste Kafka zweimal nach Paris, jeweils für wenige Tage: vom 9. bis 17. Oktober 1910 und vom 8. bis 13. September 1911. Seine Notizen über die Pariser Metro stammen von 1911, beziehen sich jedoch – wie das anfängliche »damals« erkennen lässt – auf Eindrücke aus beiden Jahren.

Eine U-Bahn gab es in Prag nicht, nach Berlin wiederum fuhr Kafka erstmals im Dezember 1910. Seine Impressionen aus der Pariser Metro schildern also die Begegnung mit einem für ihn völlig neuen Verkehrsmittel. Auch die von Max Brod überlieferten Reiseaufzeichnungen belegen, dass die Freunde dabei weniger an technischen Einzelheiten interessiert waren als vielmehr an den charakteristischen sozialen und körperlichen Phänomenen, welche die neue Art der Fortbewegung begleiteten.

 

Quellen: Franz Kafka, Reisetagebücher in der Fassung der Handschrift. Mit parallel geführten Aufzeichnungen von Max Brod, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch Verlag) 1994, S. 71-73. Max Brods Aufzeichnungen über die Pariser Metro hier S. 184-187.